Andrew verstand zuerst nicht. "Was erlaubst du dir.." Aber dann! Er runzelte die Stirn und betrachtete nachdenklich das Gesicht der jungen Frau. Das konnte nur Lilly wissen.. nur Lilly. Seine Lilly. Lilly, die zu Luke gegangen war. Lilly, die.. "Lilly., stieß er verblüfft aus. Dünner war sie geworden, schmutzig, blass. Aber sie war es. "Na du läufst ja durch die Straßen.. verbreitest sicher Angst und Schrecken, was?" Er seufzte, fast schon etwas erleichtert. Wie gut es tat, sie zu sehen.. Erst jetzt bemerkte er, was ihm die ganze Zeit hätte klar sein müssen.. all die schlechte Laune, all der Zorn.. er hatte sie vermisst. Sehr sogar. "Was machst du hier? Um diese Uhrzeit?" Wo war der dumme Junge, wenn man ihn brauchte? Wieso war er nicht bei ihr und beschützte sie, hm?
Er hatte sie also wirklich wiedererkannt. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sie in der vergangenen Zeit vergessen hatte. Schließlich gab es viele schöne Frauen in Cambridge und sicher schwärmten sie um ihn, wie die Motten um das Licht. Aber er stand hier und er wusste ihren Namen noch. Das entlockte ihr ein Lächeln und verlegen strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. "London ist ein gefährliches Pflaster, wenn man mal durch die Straßen laufen will, um das schöne Wetter zu nutzen.. in der Nacht." Es war eine sonderlich dumme Ausrede, aber was sollte sie schon sagen? Ich laufe durch die Straßen, weil ich es nicht ertrage neben dem Mann zu liegen, wegen dem ich mein bisheriges Leben hinter mir gelassen habe Es wäre nicht fair Luke gegenüber, der immer alles für sie getan hatte. "Und wieso läuft ein Lord allein durch die Straßen, so mitten in der Nacht?" sie streckte die Finger nach seinem Gesicht aus. "Ohje..das wird blau fürchte ich.. ich sag es ja: London ist gefährlich."
Andrew zog den Kopf nicht zurück. "Aus dne gleichen hirnrissigen Gründen wie ein Mädchen wie du, fürcht ich.." Er runzelte die Stirn, musterte sie nachdenklich. "Geht es dir gut bei ihm?" Es sah nicht danach aus.
Ihre Finger strichen über seine Schläfe. Es war ein seltsames, kribbelndes Gefühl, wo ihre Finger seine Haut berührten. So vertraut und doch einfach ganz anders als früher. "Du läufst durch die Gassen, weil du nicht schlafen kannst? Ich bekomme weit weniger mit als früher. Ist die politische Lage gerade so schlecht, dass du dir den Kopf darüber zerbrechen musst? Hast du dir denn keine neue... Entspannungsmöglichkeit gesucht...Mylord." Sie war nicht ganz sicher ob sie bei dem förmlichen mylord bleiben sollte... Oder bei Andrew... Als er sie aber nach Luke fragte, da verkrafte sich ihre Magengegend. "Luke... Ja doch, er tut alles nur mögliche für mich. Ich glaube so sehr hat sich noch nie ein Mensch für mich bemüht." Sie schluckte schwer und sah auf ihre Füße. "Er gibt sich so viel mühe..."
"Klingt nicht, als wärst du glücklich.." Andrew lächelte schwach. Es war ihm egal, wie sie ihn ansprach. Er wollte nur..ja, was wollte er eigentlich? Ihre Fingerkuppen waren rau und kalt, aber es war Lily. Er spürte eine Erleichterung bei ihrem Anblick, eine..ja..Freude.. die er so von sich gar nicht kannte. "..Camebridge geht es gut.", murmelte er. "Mir auch. Aber die Advokaten sind so langweilige Menschen.. alles alte Säcke im Palace, weißt du.." Er sah sie nachdenklich an. "Was machst du denn jetzt?" Ob sie noch in ihrem alten Metier arbeitete? Das hatte sie ja nicht mehr tun wollen..
Klingt nicht, als wärst du glücklich.. Seine Worte schnitten wie Messer ins Fleisch. Nein, glücklich war sie wohl nicht, aber Luke konnte ja nichts dafür. Er tat alles für sie, während sie sich selbst immer mehr dafür hasste, dass ihn nicht lieben konnte. Sogar über seine Wange strichen ihre Finger noch, einfach weil es gut tat. Er erinnerte sie an früher.. das früher, dass noch garnicht so lange her war, und ihr jetzt doch vorkam wie ein anderes Leben. "Ich mach so dies und das.. schlag mich so durch." sie murmelte es nur so vor sich hin, denn nichts wollte so wirklich klappen. Beim Kellnern flirtete Lily mit den Gästen, was ihr ein schlechtes Gewissen Luke gegenüber einbrachte. Beim Verkaufen verrechnete sie sich und bekam Ärger. Irgendwie gab es nichts, wofür sie wirkliches Talent hatte. Und der dumme Bengel ihr gegenüber, der sich zwar Lord nannte, aber ja auch nur ein junger Bursche war, der hielt ihr jetzt den Spiegel vor und zeigte ihr in ganzer Pracht, wie verpfuscht ihr Leben im Moment war. Tränen stiegen ihr in die Augen und so sehr sie auch kämpfte die ein oder andere kullerte ihr doch über die Wangen.
ANdrew betrachtete besorgt, fast schon erschrocken ihr Gesicht. "..hast du was gegen einen warmen Kamin und einen heißen Tee? Scheint, als könntest du das momentan sehr gut gebrauchen..", murmelte er leise. Sein Gesicht schmerzte, aber die Schwellung würde shcon wieder zurückgehen.. er sah die Gasse entlang. Sie sah so aus, als bräuche sie eine Nacht in einem richtigen Bett und ein heißes Bad. Und jemanden zum Reden. Er seufzte fast. Seine..nein..es war gar nicht seine.. Lilly..so zu sehen..
Sie wischte in ihrem Gesicht herum, doch außer, dass ihre Wangen nur noch verschmierter aussahen änderte sich nichts. Als er sie einlud sah Lily ihn mit feuchten Augen an. "Und was soll ich Luke sagen..?" Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen. "Ich meine.. wenn ich einfach mit einem Mann mitgehe.. schlimmer noch, mit dir." Nach einem Moment des Schweigens aber nickte sie. "Ich denke.. wenigstens eine Tasse Tee wäre gut." Nur bezweifelte sie, dass man sie so in den Palace ließ. Aber vielleicht nächtigte Andrew ja garnicht dort.
Er zuckte die Achseln. "Was sagst du ihm denn, wenn du nachts durch London läufst?" Andrew lächelte schief. Kurz drückte er ihre linke Hand. "Komm, ich bring dich ins Warme." Sie liefen tatsächlich zum Palace. Durch den Dienstbotengang kam jeder, der ein paar Pence an die Hausmutter gab.
"Naja..." sie seufzte leise. "Ich sage ihm eben, dass ich nicht schlafen kann und Nachts durch London laufe." Jetzt wo sie es sagte klang es wirklich wie eine alberne Ausrede. Lily folgte dem jungen Lord bis in den Palace. Wieder diese herrlichen Räume, dieser Duft in der Luft.. einfach alles war hier schöner, sauberer und wohlriechender als sie. Lily schämte sich auf einmal noch mehr als sonst für das, was sie war. Eine Hure zu sein.. das war sie gewesen. Es war in Ordnung gewesen, sie hatte eine Darseinsberechtigung gehabt. Aber jetzt? Wer war sie denn jetzt eigentlich? "ich will dir wirklich nicht zur Last fallen.." Erschrocken hatte sie sich in einem der großen Spiegel gesehen. Er musste sich doch schämen mit ihr gesehen zu werden, so wie sie aussah.
Es war ihr egal, irgendwie. Ja, sie war schmutzig und schmal, aber sie war immer noch seine Lily. Getrost ignorierte er sie und meinte: "Du solltest ein Bad nehmen." Anstatt einen Bediensteten zu rufen, kümmerte er sich selbst darum, dass die Wanne gefüllt und Handtücher bereitgelegt waren. "Sicher ist es eine halbe Ewigkeit her, dass du warmes Wasser an dir gehabt hast, was?" Er sah zu ihr, fragend. Meinte dann aber noch: "Lily, du kannst gehen, sobald du willst. Bleib und geh baden, bleib und trinke Tee, bleib und iss, bleib und schlaf hier.. wie du willst. Du fällst hier keinem zur Last. Du bist mein Gast heute Abend, ja? Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen.. ich bin neugierig, wie es dir so ergangen ist.."
Sie beobachtete jeden seiner Schritte, wie er die Handtücher bereit legte und wohlriechendes Salz ins Wasser gab. Das Bad war viel zu verlockend um jetzt zu gehen, denn natürlich gab es kein warmes, duftendes Wasser bei Luke. Zu Hause in Camebridge.. eigentlich war es albern, dass sie immer noch von ihrem zu Hause sprach, auch wenn sie dort nicht mehr lebte und wohl nie zurück könnte... zu Hause hatten sie auch nur kaltes Wasser in einem Zuber gehabt, aber durchaus manchmal duftende Zusätze. "Das Bad nehm ich wirklich gerne. Und.. Tee und etwas zu Essen klingt auch sehr gut. Danke.." sie wusste nicht so ganz, womit sie das eigentlich verdient hatte. Andrew, der junge Lord war so nett zu ihr, bediente sie hier sogar. Sie wollte ihm um den Hals fallen und sich freuen, dass es ihn gab, wäre da nicht das schlechte Gewissen gewesen. Lily sah dem Wasser zu, dass weißen Schaum bildete. "Ähm..macht es dir etwas aus.. also.. würdest du dich umdrehen, während ich ins Wasser geh?"
Andrew lächelte fast etwas. "Ich geh auch aus dem Raum, wenn du möchtest.." Er unterdrückte ein Gähnen, streckte sich. Und verschwand aus dem Badezimmer, um im Salon nach einem Buch zu suchen.
Ein wenig Zeit ließ sie sich schon mit dem Baden, es war einfach viel zu schön hier im warmen Wasser zu liegen. Vor allem vertrieb es die ganzen Gedanken in ihrem Kopf. Aber da sie nicht unhöflich sein wollte kam sie schließlich doch wieder hervor. Eine ganze Weile hatte sie überlegt, ob sie in das weiche Handtuch gewickelt bleiben sollte, oder doch das Kleid anziehen. Sie entschied sich für das Handtuch, das so groß war, dass es ihr bis über die Knie viel. Mit noch nassem, aber geflochtenem Haar kam sie im Handtuch aus dem Bad, schließlich war ihr Kleid eher dreckig und das Handtuch so himmlisch weich, dass sie es zumindest noch etwas auf der Haut fühlen wollte. Lily setzte sich zu Andrew und betrachtete einen Moment fasziniert die Buchstaben. "Ist es ein interessantes Buch?"
Er hob den Kopf und sah sie einen Moment lang schweigend an. Ja; dieses saubere Mädchen sah schon mehr nach seiner alten Lily aus. "Das Buch? Och..schon, ja. Ein Roman. Über Abenteuer und sowas." Er deutete auf die Teekanne vor ihm. "Willst du?"